Hans-Dieter Jobst

Der 17. Juni 1953 in Berlin-Charlottenburg

Nachdem ich mit meiner Mutter während des Zweiten Weltkrieges - sie arbeitete beim Landesstraßenbauamt in Rechlin - in der Elisabethstraße 4a, Neustrelitz, gewohnt hatte, mußten wir, "als die Russen kamen" - Mai 1945 - mit dem notwendigsten Hab und Gut (Fotoalben u. dgl.) in einem alten Bus - Richtung Westen - die Flucht ergreifen. Wir versuchten, wenigstens bis Lübeck zu kommen; aber es stellte sich heraus, daß die Russen "schneller waren", und so blieben wir in Grevesmühlen "hängen"!

Hier besuchte ich bis Ende 1945 die Klasse la der Staatlichen Oberschule für Jungen zu Grevesmühlen i. Mecklenburg; in der gleichen Schule von Ostern bis 13. Juli 1946 die Klasse Va, und die Klasse Via von September bis Weihnachten 1946. Per Zeugnis vom 22. VII. 47 wurde ich nach Klasse VII versetzt.

Danach ging es zurück nach Neustrelitz, wo wir uns - inkl. "Omi & Opa", die - von Hinterpommern - auch nach Grevesmühlen geflüchtet waren - eine Wohnung in der Twachtmannstraße 21/22 mit einem älteren Ehepaar teilten. Meine Mutter bekam eine Stelle als Stenotypistin bei der Bezirksleitung der SED am Augustaplatz. - Auf irgendeine Art und Weise machte meine Mutter die Bekanntschaft mit Frau Filitz, die zwischen dem Rathaus und dem Blumengeschäft nebenan ein kleines Textilwarengeschäft führte. Durch sie wiederum lernten wir Frau Hipp, ihre Mutter, in der Bruchstraße kennen. Wir befreundeten uns miteinander und kamen eines Tages auf meine Einsegnung unter Pastor Mützke zu sprechen, die am 10.4.1949 in der Stadtkirche stattfand Da tauchte die Frage auf: "Was essen wir zur Einsegnung, zu Mittag?" Da Fleisch zu dieser Zeit knapp war, fiel das Wort "Kaninchenbraten", und Frau Hipp bot sich an, einen Platz in ihrem großen Garten zur Verfügung zu stellen, wo ich ein Karnickel großziehen konnte.

Das "Karnickel" war nur der Anfang; eines Tages - es war im März 1953 - wurde meine Mutter sehr krank und mußte das Bett hüten Um sich die Zeit zu vertreiben, hatte sie sich von Frau Hipp ein Buch ausgeliehen, das nicht "ganz astrein" war, in bezug auf das Regime von WILHELM PIECK. Eines Tages besuchte sie ein Parteibonze, und sein Blick fiel auf dieses Buch, das auf dem Nachttisch meiner Mutter lag. Ich kann mich noch an ihren Zustand entsinnen - wenn sie nicht so schwerkrank gewesen wäre, hätte man sie sofort eingesperrt! Jetzt blieb uns nichts anderes übrig, als die Flucht zu ergreifen! Und es war meine Mutter, die den Anfang machte, per Zug, natürlich (nach Berlin)!

Es war in der Twachtmannstraße, als ich eines Tages einen alten Fahrradrahmen mit Rädern - allerdings ohne Bereifung - von irgendjemandem "erbte"! Durch "Beziehungen" kam ich bald zu den benötigten Reifen. Wenn ich mich recht entsinne, spielten auch die "Beziehungen" wieder eine Rolle, um an den damals sehr populären Kilometerzähler zu kommen. Schließlich fuhr ich selbst - mit dem Fahrrad - nach Berlin, um "einzukaufen", hauptsächlich Ersatzteile für's Fahrrad. Bald stellte sich heraus, daß der Kilometerzähler nicht mehr gut genug war; jetzt mußte ein Tacho "ran"! Und es war am Ende der Sommerferien 1952 (31 .August), als ich - lt. Magistrat von Groß-Berlin - wegen Verstoss gegen den inner-deutschen Zahlungsverkehr vom 13.7.1950 per Sicherstellungsbescheinigung um "2,- West" "gefilzt" wurde (s. Anl. #1).

Es war einen Tag später, nachdem meine Mutter "abgehauen" war, daß ich an der Reihe war; meine Großeltern waren die letzten. Nachdem mein Tacho schon 54.000 km anzeigte, glaubte ich mich auf mein Fahrrad verlassen zu können. Die Gepäcktaschen wurden vollgestopft mit den wichtigsten Sachen, u.a. mit unwiederbringlichen Dingen wie Fotos, inkl. Negative (von meiner Agfa Box). Am 2. April 1953 war es so weit - ich verließ Twachtmannstraße 21/22 zum letzten Mal, und es ging in Richtung Berlin. Kurz vor dem Brandenburger Tor täuschte ich einen "Platten" vor und war erstaunt durchzukommen. "Auf der anderen Seite", pumpte ich meinen Reifen wieder auf und fuhr weiter nach Berlin-Friedenau (Cranachstraße), zu entfernt Verwandten. Da wir dort zu viert nicht bleiben konnten, siedelten meine Mutter und ich um zu Verwandten in Berlin-Charlottenburg.

Am 5. JUNI 1953 bekam ich vom Der Leiter des Bundesnotaufnahmeverfahrens-in Berlin - Aufnahmeausschuß- unter dem Aktz.: 119 653 meine offizielle Aufenthaltserlaubnis (s. #7).

Nun war es 1953 das erste Mal gewesen, daß die Abiturienten vor dem schriftlichen Abitur informiert wurden, mit welchen Themen sie rechnen konnten (s. Anl. #2, #3, #3a, #4, #5).

Kurz vor Mitte Juni glaubte ich als alter "Stammhörer" - ich hörte, außer den Nachrichten, regelmäßig Jugend spricht zur Jugend und Die Schlager der Woche (meistens bei meinem Klassenkameraden und ca. 250 m entfernt wohnenden Nachbarn Gunnar Koeppen) -dem RIAS einen Gefallen zu tun, indem ich ihn die Prüfungsaufgaben bzw. Kontrollarbeiten für Mathematik und Deutsch fotokopieren ließ (s. Anl. #2), #3), #3a), #4), #5) und war ganz erstaunt, nach der Flucht im RIAS meinen ersten "Arbeitgeber` gefunden zu haben! (s. Anl. #6). Leider kann ich mich heute nicht mehr entsinnen, wie ich das Geld "angelegt" hatte. Wie aus der Anlage ersichtlich, wurde mein Beitrag am 15.6.1953 gesendet.

Zwei Tage später kam der 17. Juni! Ich kann mich noch an die Zeit erinnern, wo ich mit meiner Mutter und den Tanten am Lautsprecher saß und den "letzten Nachrichten" lauschte. Wir glaubten schon, das sei "das Ende"! Aber dann bekamen wir je einen INTERZONEN-REISEPASS (DEUTSCHLAND) -No. 109801+ 109802 (s. #8 und #9) - mit der Maßgabe zur Weiterreise nach Wentorf (23. JUN 1953).